
Fotos: Natias Neutert
Foto: Natias Neutert
Zweimal hintereinander als ethnologischer Detektiv unterwegs in Haiti, ist es Natias Neutert schließlich tatsächlich, gelungen, einen so genannten »Zombie« im Hochland von Roche-à-Bateau ausfindig — und später zum Sujet seiner »Marburg Lecture« zu machen.
Having traveled to Haiti twice in a row as an ethnological detective, Neutert finally managed to track down a so-called »Zombie« in the highlands of Roche-à-Bateau; and later made it the subject of his open Marburg Lecture.
Da stand ich nun, hinter einem Baum versteckt, mitten in der Nacht auf einem verwahrlosten, haitianischen Friedhof und wartete darauf, dass die Hexer auftauchen und sich am Grab zu schaffen machen würden. Natürlich war mir mulmig zumute, aber es war einer von vielen Versuchen, meinem Ziel näher zu kommen. Ich hatte mir vorgenommen, einen Zombie aufzuspüren, eines jener unheimlichen Geschöpfe, die der Karibik-Halbinsel Haiti in aller Welt dendüsteren Beina-men »Insel der Lebenden Toten« eingebracht hatten.
Genauer gesagt, suchte ich nach einem überzeugenden Beweis dafür, ob derartige Untotote, Wiedergänger oder Zombies überhaupt noch auf dem Tropeneiland umgingen oder nicht. Das letzte Mal, so wußte ich, war es im Jahre 1980 gewesen, als längst Verstorbene an verschiedenen Stellen des Landes wieder auftauchten und Haiti in Angst und Schrecken ver- versetzt hatten. Seither waren keine derartigen Fälle mehr an die Öffentlichkeit gedrungen. Umso mehr hatte sich mein Forschungsinteresse für die paradox anmutende Existenz der Zombies gesteigert.
Ich wußte fast alles über sie — theoretisch. Praktisch aber war mir noch nicht klar, was an ihnen eigentlich lebendig und was an ihnen tot sein sollte. [...]
Nun sollte es ernst werden. Der Baum, hinter dem ich mich versteckt hielt, war ein mächtiger Mapu, ein Baumheiligtum des Wudu, eine Wohnstätte der guédé — der Totengeister. Behängt mit Stoffetzen, Kleidungsstücken, Knochen und Löf-feln, die an Bindfäden schaukelten — rituelle Opfergaben von Gläubigen. Genauso wie die ekligen Speisereste zwischen den Wurzeln des Baums, von denen der faulig-schimmelige Geruch sich zersetzender Substanzen zu mir aufstieg.
Im Rücken durch dichtbelaubtes, heckenähnliches Gebüsch geschützt, nach vorne zu der breite Baumstamm, konnte ich das ungefährt zwanzig Meter von mir entfernt liegende, frisch aufgeworfene Grab gut im Auge behalten. Anders als die meisten
Grabmäler auf dem Friedhof außerhalb von Les Cayes mit ihren steinernen Postamenten und Aufbauten, war dies Grab nur
ein Haufen bereit liegender Feldsteine, vom mondlicht kalt beschienen.
Es lag direkt an dem schmalen Weg, der sich nach hinten zu in schwärzliches, undurchdringliches Buschdickicht verlor, und
auf dem sich die Hexer nähern mussten. Zwischen Furcht und Neugier hin und her gerissen, horchte ich in die Tropennächt, die sich unterdessen mächtig abgekühlt.
Mich fröstelte. Nichts rührte sich, von nirgendwoher Schritte, kein verdächtiges Geräusch. Plötzlich zuckte ich erschrok-ken zusammen! Über mir ertönte auf einmal leises Geklingel — zwei der herunterbaumelnden Löffel, vom Windhauch bewegt, waren sacht aneinandergestoßen. Das Geräusch hatte etwas unangenehm Alarmierendes — so als sollte Auf-merksamkeit auf mich gelenkt werden. Ich wartete und wartete. Je heftiger die den Totengeistern geschenkten Löffel über mir bimmelten, desto verrückter spielte mein Puls. Der Wind wehte stärker, trug weit entferntes Hundegebell zu mir he-rüber.
Was war das? Schleichende Schritte, ganz in meiner Nähe?! — Zweige knackten, direkt hinter mir. Und schon brach es über mich herein: Ein heftiger Stoß in die Rippen, von einem meckernden Gelächter begleitet, und ich fuhr in adrenlingepeitsch-ter Panik herum — Aug in Auge mit einer Ziege bloß, wie ich erleichtert festellte. Nach einer Weile schaltete der Herzschlag wieder runter auf normale Gangart, während das Tier nun x-beinig vor mir stand, sich Blätter vom Gebüsch zupfte und see- lenrhig vor sich hin malmte: ein friedliches Bild. Ich wollte mich nicht darf verlassen — vielleicht war es als Opfertier vorge-sehen und die Hexer bereits im Anmarsch!
Leseprobe aus der schriftlichen Fassung des Vortrags Phantombild des Paradoxen, der zuerst zur »475-Jahrfeier der Philipps-Universität« in Marburg 2002 und zuletzt 2023 im Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg« vorgetragen wurde.
Excerpt from the written version of the Phantombild des Paradoxen (Identikit picture of the Paradox), which was first presented at the »475th Anniversary of the Philipps University« in Marburg in 2002 and last at the State Museum of Nature and Man Oldenburg in 2023.